Für die seit spätestens 2015 hitzig diskutierte Flüchtlingsproblematik müssen endlich langfristig nachhaltige und realistisch umsetzbare Strategien auf den Tisch. Jedoch drehen sich die politischen Institutionen seit Jahren im Kreis, die Mitgliedsstaaten der EU zeigen sich unfähig für Kompromisse und Ideen. Auch wenn Debatten über die EU-Außengrenzen, Seenotrettung, der Zustand in Flüchtlingslagern, Fluchtwege, der Türkei-Deal und Merkels „Migrationspartnerschaften“ das Problem nicht langfristig aus der Welt schaffen können, müssen auch auf dieser akuten Ebene alternative Strategien für Millionen gestrandete, teilweise fast eingesperrte Flüchtlinge international entwickelt werden. Der regionale Raum könnte dafür eine wichtige Funktion einnehmen.
Wir beleuchten die kaum beachteten Herausforderungen, die sich rund um das Thema Flüchtlingspolitik drehen. Eine Serie.(Hier geht es zu Teil 1 über die Bekämpfung von Fluchtursachen)
Um das anhaltende Thema der Flüchtlingspolitik wirklich nachhaltig eindämmen und lösen zu können, muss das Thema der Fluchtursachen viel stärker in den Fokus rücken und sogar als Chance begriffen werden. Dies zeigten die Generaldebatten bereits im ersten Teil dieser Serie ausführlich auf. Das passiert so gut wie gar nicht, die Diskussionen und Bekundungen rund um das Thema kratzen immer nur an einer stark emotional aufgeladenen Oberfläche. Die Debatten, wie sie geführt werden, führen offensichtlich nicht zu einem vernünftigen und langanhaltenden Kurs.
Bislang jedoch werden diese Probleme vor der EU-Haustür ignoriert oder verzweifelt vor sich hingeschoben. Das ist nach fünf Jahren Flüchtlingsdrama mehr als enttäuschend. Die Versäumnisse könnten sich bald rächen.
Im März 2020 beschwerte sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan über angeblichen Vertragsbruch des 2016 ausgehandelten „Türkei-Deals“ seitens der EU. Er drohte damit, die Grenzen in die EU für syrische Flüchtlinge zu öffnen und das Abkommen platzen zu lassen, sollte die Union zu keinem neuen Deal bereit sein. Der Vertrag besagte, dass die Türkei syrische Flüchtlinge nicht über das Mittelmeer nach Griechenland kommen lässt. Im Gegenzug verlangt Erdogan, dass die Visumspflicht türkischer Staatsbürger innerhalb der EU langfristig entfällt. Zudem beteiligt sich die EU an den Kosten der Flüchtlings-Unterbringung. Knapp vier Millionen Syrer halten sich derzeit in der Türkei auf, schätzt die Konrad Adenauer Stiftung. Dass der Deal doch nicht platzte, kann die EU womöglich nur der plötzlich alles überschattenden Corona-Thematik verdanken.
Die Einigung diente Bundeskanzlerin Angela Merkel im Jahr 2016 dazu, das in Deutschland stark polarisierende Wahlkampf-Thema zumindest teilweise außer Landes zu schaffen. Zudem verkaufte die Kanzlerin die Zustimmung aller EU-Staaten für dieses Abkommen als Erfolg. Aber ein verdrängtes und aufgeschobenes Problem ist keines, das der Vergangenheit angehört. Nur weil Millionen an Flüchtlingen nun in der Türkei festsitzen und nicht in die EU kommen können, lösen sich die Herausforderungen nicht in Luft auf. So kam es folgerichtig dazu, dass der Deal Anfang 2020 fast geplatzt wäre, denn das Abkommen ist für langfristige Effektivität keineswegs ausgelegt. Für eine stabile Lösung sind daher Absprachen vonnöten, die über die nächste Wahlperiode hinaus Bestand haben können und das Problem wirklich nachhaltig für möglichst viele Seiten mildern.
Stärkung aufnahmebereiter Kommunen
Zum Türkei-Deal müssen also dringend Alternativen her. Beispielsweise beschreibt der Politikwissenschaftler Olaf Kleist in einem Beitrag auf dem Portal „mediendienst-integration“ einige interessante Ideen, um den Deal langfristig nicht mehr zu brauchen und durch nachhaltigere Lösungen für Einwanderungsländer, Geflüchtete und die Bürger hierzulande zu ersetzen.
Unter anderem argumentiert Kleist, Aufnahmeprogramme nicht mehr über die EU laufen zu lassen, sondern sich an aufnahmebereite Kommunen innerhalb Europas zu orientieren.
Der Migrationsforscher schreibt dazu:
„Bislang scheiterte der Versuch, Geflüchtete in der EU zu verteilen, daran, dass einige Mitgliedstaaten sich systematisch geweigert haben, sie aufzunehmen. Viel sinnvoller wäre es, Flüchtlinge in aufnahmebereiten Kommunen in ganz Europa zu verteilen. In den vergangenen Jahren haben wir beobachtet, wie sich viele Städte als „Solidarity Cities“ im Flüchtlingsschutz engagiert haben. Allein in Deutschland haben sich 120 Gemeinden, kleinere, mittlere und Großstädte bereit erklärt, mehr Flüchtlinge aufzunehmen.“
EU-Staaten wie Ungarn, Polen oder Österreich hatten in der Vergangenheit einen EU-weiten Verteilungsschlüssel von Flüchtlingen im Rat blockiert. Somit stehen nationalstaatliche Interessen einer europäisch-einheitlichen Problemlösung entgegen. Egal, wie man es mit rechtskonservativen Staatschefs wie Victor Orban, Andrzej Duda oder Sebastian Kurz hält, sollte man doch spätestens jetzt einsehen, dass der EU-Apparat, so wie er heute existiert, für die Bewältigung der Flüchtlings-Problematik schlichtweg nicht geeignet ist. Eine Stärkung des europäischen Parlaments haben wir bereits im ersten Teil dieser Serie eingefordert – allein schon deshalb, um die europäische Union weiter zu demokratisieren und handlungsfähiger zu machen.
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Allerdings gibt es auch Möglichkeiten, die Flüchtlingsproblematik außerhalb der EU zu regeln. Beispielsweise steht es jedem souveränen Staat zu, unabhängig der Union mit anderen Staaten Verträge und Abkommen zu schließen. So einigte sich ja bereits eine sogenannte „Koalition der Willigen“ im Sommer 2020 darauf, minderjährige Flüchtlinge aus Griechenland aufzunehmen. Neben Deutschland beteiligten sich unter anderem Frankreich, Finnland, Portugal, Luxemburg, Irland und Kroatien an dem Umzug von 1.600 Migrantenkindern von den griechischen Inseln in die jeweiligen Staaten. Solche Interessensgemeinschafte sind also auch ohne die Zustimmung aller EU-Staaten möglich. Zusätzlich könnten sich mit sogenannten „sicheren Herkunftsstaaten“ ebenfalls bi-oder multilaterale neue Abkommen herausbilden, um im Gegenzug für Entwicklungshilfen oder sonstige Interessensausgleiche eventuell sogar die Situation in einigen wirtschaftlich schlecht dastehenden Herkunftsstaaten positiv zu beeinflussen.
Gerade hinsichtlich des wackeligen und allenfalls temporär umsetzbaren Türkei-Deals wären diese Ideen ein Mittel dafür, das türkische Druckmittel der Grenzöffnungen zu entkräften.
Stärkung kommunaler Räume effizienter und demokratischer
Dennoch möchte ich nochmals auf den Vorschlag des Migrationsforschers Olaf Kleist zurückkommen, den Kommunen freiere Hand in der Aufnahme von Flüchtlingen zu lassen. Denn diese Idee kommt einer politischen Stärkung des regionalen Raums gleich. Dies dürfte sowohl im Interesse von Globalisierungskritikern, als auch im Interesse linker Positionen sein. Jede Kommune könnte im Sinne ihrer Einwohner selbst entscheiden, ob Flüchtlinge in die Kommune kommen können oder nicht. Sowohl Bürger als auch Entscheidungsträger können den Überblick über die Zumutbarkeit der Aufgaben behalten, die eine Aufnahme von Migranten für die jeweilige Kommune mit sich bringt. Innerhalb von Gemeinden sind auch die verschiedenen Interessen der Bürger wesentlich besser verhandelbar, als dies über eine übergeordnet agierende Instanz wie dem Bund oder der EU erfolgen kann.
Solche Maßnahmen könnten auch den Eindruck einer zentralistisch agierenden und nach „unten“ delegierten Verordnungspolitik verschwinden lassen, die regionale unterschiedliche Interessen gar nicht ausreichend Blick haben kann. Der Bund, oder eine überstaatliche multilaterale Koalition müssten jedoch die rechtlichen Rahmenbedingungen und Budgets für Migrations-Partnergemeinden bereitstellen, die Kommunen im Falle von Aufnahmeprogrammen abrufen könnten.
Somit würde Migrationsaufnahme nicht mehr zur Pflicht, um unangenehme Bilder aus den Medien zu halten, sondern zur einer freiwilligen Aufgabe unter Kontrolle der Bürger im Rahmen einer gut verhandelbaren Regionalpolitik. Damit könnten auch die gefährlichen Fluchtwege über das Mittelmeer, auf dem im Jahr 2020 922, 2016 sogar über 5.000 Menschen ihr Leben ließen, durch sichere und legale Möglichkeiten ersetzt werden.
Diese Wege dürften dann diejenigen beschreiten, die bereits eine Aufnahmekommune oder eine private Partnerschaft gefunden haben. Die rechtlichen Asyl-Verfahren müssten, wenn möglich, bereits über die aufnahmebereiten Kommunen in die Wege geleitet werden, wenn sich die betroffenen Personen noch in den Aufnahmelagern befinden – nicht erst nach einem illegalen Grenzübertritt in die EU. Private Seenotrettung zu kriminalisieren kann und darf aus humanitären gründen natürlich ohnehin kein Thema mehr sein. Dennoch zeigt die EU gerade was dieses Thema angeht seine verzweifelte und hässliche Fratze.
Privat organisierte Partnerschaften für Migrantenfamilien
Bund und Länder sollten aber auch privat-organisierte Partnerschaften fördern, wie beispielsweise vereins-organisierte oder familiäre Unterstützungen für Migranten. Ebenso könnten Gemeinden langjährige Partnerschaften mit Sippen, Kommunen oder Städten in Herkunftsländern oder Flüchtlings-Lagern wie in Jordanien, Lybien oder der Türkei initiieren. Im unter einer Militär-Diktatur leidenden Lybien bezeichnete sogar das auswärtige Amt im Jahr 2017 die Zustände in den Lagern als „KZ-ähnlich“.
Sollten tatsächlich Gemeinden und Städte Partnerschaften mit in den Unterkünften lebenden Familien, oder mit den Verantwortlichen der Lager selbst hegen, verschiebt sich hier der Verantwortungsbereich in Richtung der hiesigen Organisationen. Dies könnte die Kontrolle über die dortige Situation verbessern und die Finanzierung humaner Unterkünfte fördern. Im Falle weiterer oder regelmäßiger Verstoße gegen die Menschenrechte, wie bereits mehrmals in lybischen Lagern geschehen, müssen die Staaten einen rechtlichen Rahmen mit Lybien aushandeln und Verstöße als Vertragsbruch kennzeichnen. Stattdessen gibt die EU gerade mit dem seit drei Jahren laufenden „Rücknahmeabkommen“ das Zepter unmittelbar in die Hand Lybiens und hat daher kein Druckmittel, um die katastrophalen Zustände in den Lagern zur Besserung zu bringen.
Eine schnelle Lösung gibt es nicht
Zusammengefasst lässt sich folgendes festhalten: Das Problem, gestrandete Flüchtlinge überhaupt beklagen zu müssen, ist auch ein Resultat weitreichender Verfehlungen der NATO-Kriegspolitik, vernachlässigter Entwicklungshilfe und globalisiertem Raubtier-Kapitalismus. Da sich diese Probleme jedoch nicht schnell lösen lassen, muss endlich eine Lösung für die Menschen her, die sich bereits auf den Weg in ein sicheres und ökonomisch besser gestelltes Land gemacht haben und nun in Flüchtlingslagern festsitzen. Die EU hat sich diesbezüglich als ungeeignet herausgestellt und dient eher als Ausrede, nicht endlich andere politische Wege in Betracht zu ziehen. Anstatt mit dem Finger auf andere Staaten zu zeigen, erfordern effiziente Lösungen ein Maß an Eigenverantwortung. Die Kommunen mit einzubeziehen und neue Abkommen mit gewillten und betroffenen Staaten zu schließen, könnte sich als friedlichere und demokratischere Lösung herausstellen. Ohne eine deutlichere Änderung der Debattenkultur aller politischer „Lager“ bleibt all das jedoch nur ein Gedankenspiel. Dazu mehr in den kommenden Teilen dieser Serie!