Das obskure Start-Up Clearview: Mit Gesichtserkennung in den totalitären Überwachungsstaat? Uni-Leiter schlägt Alarm

Markus Kohn (Name geändert) arbeitet in der Leitung einer großen deutschen Universität. In einem Gremium hat er sich vergangene Woche mit einem beunruhigenden Fall auseinandersetzen müssen, wie er den Generaldebatten mitteilte: „Unsere IT-Abteilung hat unseren Datenschutzbeauftragten darüber informiert, dass alle Fotos (der Uni-Website, redaktionelle Anmerkung) von Clearview heruntergeladen wurden.“ Clearview AI ist eine US-Amerikanische Firma, die sich auf „Gesichtserkennung“ spezialisiert und nach eigener Angabe mit Sicherheitsbehörden auf der ganzen Welt zusammenarbeitet. Aber die Praktiken des 2017 gegründeten Start-Ups gehen weit darüber hinaus. Markus Kohn befürchtet, dass sich derartige Massenüberwachung bald als Albtraum herausstellen könnte.

Es dauerte fast zwei Jahre, bis das US-Amerikanische Unternehmen im Silicon Valley in die Schlagzeilen geriet. Bis dahin agierte die Tech-Firma nach ihrer Gründung weitestgehend unter dem Radar schwimmend. Die Idee: Clearview scannt Internetseiten auf der ganzen Welt, um Bildmaterial von Personen zu speichern. Kunden erhalten Zugangsdaten zu einer App. Dort können sie Bilder einer Person hochladen und mit der Riesen-Datenbank abgleichen. Es offenbaren sich alle öffentlich zugänglichen Fotos dieser Person mitsamt den Links, wo diese Fotos zu finden sind. Anfang 2020 sammelte Clearview bereits um die drei Milliarden Bilder für ihre Datenbank, recherchierte die New York Times.

Auch Walmart und Macy’s haben offenbar Zugang

So weit so gruselig. Aber es wird noch besser. Zwar beteuert Clearview, nur mit Sicherheitsbehörden zusammenzuarbeiten, um „Verbrechen aufzuklären“. Auf der mit wenigen Informationen ausgestatteten Firmen-Website ist zu lesen:

„Clearview AI ist ein neues Forschungsinstrument, das von den Strafverfolgungsbehörden zur Identifizierung von Tätern und Opfern von Straftaten eingesetzt wird.“

Clearview AI

Laut New York Times hätten sich bereits im vergangenen Jahr um die 600 Behörden weltweit in die Kundenliste eintragen lassen. Jüngst sprach Co-Gründer und CEO Hoan Ton-That in einem YouTube-Interview von „über 2.400 Polizeistellen“, die seine App nutzen würden. Entgegen aller Beteuerungen legten Buzzfeed-Recherchen allerdings offen, dass nicht nur staatliche Organisationen Zugriff auf die Bilder-Datenbank haben, sondern auch private Konzerne wie Macy’s, Walmart, Organisationen in Saudi Arabien und die NBA. Insgesamt 2.200 internationale Kunden zählte das Unternehmen laut Buzzfeed im Februar 2020.

Wie weit Clearview mit dem Daten-Rohstoff gehen könnte, legten weitere Buzzfeed-Recherchen offen. Dort ist von einer geplanten Zusammenarbeit mit dem Unternehmen Vuzix die Rede, das sich auf die Entwicklung von tragbarer Display-Technologie wie „Smart-Glasses“ spezialisierte. Mithilfe der Gesichtserkennung könnten Brillen entwickelt werden, die einem nur bei bloßem Ansehen einer Person sämtliche persönliche Informationen auf das Brillen-Display spielt. Außerdem arbeite Clearview laut Buzzfeed an smarten Überwachungskameras, wie auf einer mittlerweile gelöschten Website zu sehen gewesen sei.

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Dass Clearviews Pläne bald eine komplette Auflösung jeglicher Privatsphäre bedeuten könnten, hält nicht nur Markus Kohn für eine realistische Dystopie. Er verweist auf das von der Europäischen Union durchgeführte INDECT-Projekt. Von 2009 bis 2014 arbeitete eine Forschungskommission an Möglichkeiten, mit der Überwachung von Suchmaschinen und der Auswertung von Kamerabildern in der Öffentlichkeit Straftaten vorherzusehen. Dies sollte mittels Verhaltensvorhersagen und der Offenlegung von Beziehungsgeflechten geschehen. „Seitdem sollte allen klar sein, dass das eine Überwachungsstruktur etabliert, die der totalen Kontrolle schon sehr nahe kommt. Und totale Systeme sind eben totalitär, was mit einer Demokratie nicht im Einklang steht“, warnt Kohn.

„Riesiges Missbrauchspotenzial“

Er verweist zudem auf ein „riesiges Missbrauchspotenzial“, die solche Techniken und Praktiken mit sich bringen würden. Im Fall Clearview spionierte der Milliardär John Catsimatidis dem Date seiner Tochter nach und deckte in einem seiner Filialen die Identität von Ladendieben auf – als Privatmann wohlgemerkt. Des weiteren berichtet die New York Times von Privatkunden und Polizisten, die ihre App-Zugangsdaten Freunden und Verwandten zum Scannen ihrer Dates, Geschäftspartner und von Partygästen zur Verfügung gestellt hätten. Erst auf Anfrage der Zeitung räumte Geschäftsführer Hoan Ton-That ein, dass Investoren und „strategische Geschäftspartner“ sogenannte „Testkonten“ erhalten hätten.

Das alles bezeichnet Markus Kohn noch als „relativ harmlos“. Jedoch stellt sich ihm die Frage: „Was passiert wohl bei politischen Gegnern?“ Das ist eine in sehr naher Zukunft wohl entscheidende Frage. Passend dazu die Ausführungen zu Recherchen einer NYT-Reporterin, die von der „Zeit“ aufgegriffen wurden:

„Die Recherchen der NYT-Reporterin Kashmir Hill enthalten alarmierende Details. Sie habe Polizisten, die mit Clearview arbeiten, gebeten, ein Foto von ihr durch die Datenbank laufen zu lassen. Kurz darauf habe Clearview angerufen. Das Unternehmen habe sich erkundigt, ob die Ermittler mit der Presse sprächen. Offenbar registriert Clearview also, nach welchen Personen die Behörden suchen.“

Zu allem Übel stellten Gizmodo-Reporter bei einer Analyse der App auch noch einige Sicherheitsmängel fest, die den Schutz der Riesen-Datenbank von außen gefährden. Diese Informationen trugen die Analysten sogar ohne die erforderlichen Zugangsdaten zusammen. Die App befindet sich auf einem Amazon-Server.

Folgerichtig ließ sich das Unternehmen Ende Februar eine Kundenliste stehlen.

„Wir können da nichts machen“

Nach dem Vorfall an seiner Universität sieht Markus Kohn keine Chancen, gegen das Treiben von Clearview vorzugehen. Er sitzt in einem Gremium, das den Datenklau überprüfte. Ergebnis: „Wir können da nichts machen, denn es ist eine US-Firma.“

Beruflich die Hände gebunden stellte Kohn den Vorfall über „Reddit“ in die Öffentlichkeit, um zumindest vor Clearview und deren Methoden des Bilder-Diebstahls zu warnen:

Die Warnung in der Öffentlichkeit war das einzige, das Markus Kohn in dieser Situation als Handlung in Betracht ziehen konnte. „Verhindern wird man das nicht können, nicht einmal wenn man internationale Gesetze hätte. Das Unternehmen arbeitet mit den Geheimdiensten der USA zusammen, da wird dann notfalls die ‚Nationale Sicherheit‘ bemüht. Darüber geht ja immer alles.“ Dass die Daten einer Website komplett gescannt werden, sei zwar ungewöhnlich. Jedoch stelle dies auch keine völlig neue Praktik im Namen der angeblichen „Sicherheit“ dar, weiß Kohn. Auf ähnliche Weise würden unter anderem chinesische und russische Geheimdienste ihre Daten sammeln.

Ist das Urheberrecht anwendbar?

In der Tat ist es bislang niemandem gelungen, rechtlich wirksame Mittel gegen Clearview einzuleiten. Die US-Amerikanische Non-Profit Organisation „American Civil Liberties Union“ tat sich mit einer Klage wegen illegaler Gesichtserkennung am prominentesten hervor. Der Ausgang des Verfahrens steht noch aus.

Medienrechtler Thomas Hoeren schlägt bei „Heise.de“ vor, mit dem Urheberrecht gegen Clearview vorzugehen. Die europäische Datenschutzverordnung (DSGVO) beziehe sich nämlich nicht auf Fotos, sondern nur auf personenbezogene Daten. Das Urheberrecht sei jedoch nur anwendbar, wenn Deutschland der „Deliktsort“ wäre, an dem die Verletzung stattfindet. Sprich: Wenn die Daten sowohl in Deutschland gescannt als auch von deutschen Kunden verwendet würden, könne laut Hoeren ein Betroffener auf Urheberrechtsverletzungen klagen. Eine wackelige Nummer wäre ein solches Verfahren aber dennoch.

Veröffentlicht von chsscha

Freidenkender Schreiberling, der sich um Zukunftsfragen Gedanken macht und Fragen stellt, die nicht in Dauerbeschallung durch die Kanäle der Republik gepeitscht werden. Ich bin Mitgründer und Administrator des Gemeinschaftsblogs www.generaldebatten.com. Auch findet ihr uns auf unserem Youtube-Channel "knallhart durchgeleuchtet". Viel Spaß beim Durchstöbern unserer und meiner Inhalte!

3 Kommentare zu „Das obskure Start-Up Clearview: Mit Gesichtserkennung in den totalitären Überwachungsstaat? Uni-Leiter schlägt Alarm

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