Der Streit um die Gaspipeline Nord-Stream 2 kocht besonders nach dem Giftanschlag auf den russischen Oppositionellen Alexej Nawanly wieder hoch. So fordern viele Politiker einen sofortigen Stopp des Energieprojekts, obwohl bislang kein stichhaltiger Beweis vorliegt, dass der Kreml überhaupt an diesem Anschlag beteiligt war. Um Moral geht es im Streit um das Projekt sowieso kaum, sondern mehr um harte Interessen. Die Vergftung von Nawalny wird benutzt, einen seit Jahren ausgetragenen Wettbewerb um Energieexporte entscheidend zu beeinflussen. Es geht um flüssiges Fracking-Gas aus den USA, das russisches Erdgas als Energiequelle in der EU langfristig ablösen sollte. Bislang erfüllte sich dieser Traum von US-Entscheidungsträgern und Lobbyisten aber nicht.
Verschwörungstheorie! Das war der Tenor vieler etablierter Medien, als der linke Spitzenpolitiker Gregor Gysi seinen Verdacht in der Sendung MDR-Aktuell äußerte, wer hinter dem Anschlag auf den russischen Spitzenpolitiker Alexej Nawalny stecken könnte.
„Es kann ja auch sein, dass es ein Gegner der Erdgasleitung nach Deutschland war. Oder ein beauftragter Gegner, der wusste: Wenn man einen solchen Mord inszeniert, der dann der Regierung in die Schuhe geschoben wird, führt das zur Verschlechterung der Beziehungen.“
Gregor Gysi zur Vergiftung von Alexej Nawalny
Zudem verwies Gysi zurecht auf die nicht vorhandene Beweislage, die eine Beteiligung der russischen Regierung an dem Anschlag untermauern könnte. Wer sich bei Gysi den Tenor der „Verschwörungstheorie“ bedient und gleichzeitig die Putin-Fraktion ohne jeglichen Beweis für eine Täterschaft beschuldigt, stellt selbst eine Verschwörungstheorie auf. Hinsichtlich der Interessen auf dem europäischen Energiemarkt und dessen geo-strategischer Bedeutung für die USA und Russland ist Gysis Theorie zudem gar nicht mal so abwegig.
Denn Fakt ist: Für die US-Amerikanische Energiewirtschaft verlief das Jahr 2019 nicht sonderlich gut. Im Oktober 2019 gab Dänemark als letzter Anreinerstaat seine Zustimmung zu Nord-Stream 2. Den chinesischen Markt hat Russland bereits unter seiner Fittiche. Im November 2019 ging die Gazprom-Pipeline „Sila Sibiri“ (Stärke Sibiriens) in Betrieb. Mit der Großmacht China schloss das Land einen 30-Jahre-Vertrag mit einem Gesamtvolumen von 400 Milliarden US-Dollar. Diese Pipeline ist übrigens rund fünf Mal so teuer wie das Projekt Nord-Stream 2. Es ist das größte von vielen Projekten, mit denen Russland auf dem Weg ist, den chinesischen Energiemarkt weiterhin zu dominieren.
Europa mit Gas überflutet
Und Europa? Der Kontinent ist förmlich mit Gas überflutet. Grund dafür sind milde Winter, die den Preis drücken. Doch auch die Offensive der USA auf dem Gasmarkt spielt im Preisverfall eine Rolle und sorgt für ein Überangebot. Pipelinegas aus Russland ist im europäischen Markt jedoch deutlich billiger, als das LNG-Gas aus dem fernen Nordamerika. Die hohen Förderungs-und Transportkosten sorgten 2019 zeitweise dafür, dass der Verkaufspreis von Fracking-Gas aus den USA in Europa zeitweise niedriger als der Produktionspreis ausfiel, ermittelte das Handelsblatt. Die Fracking-Offensive der USA unter Donald Trump entpuppt sich demnach – was den Export nach Europa angeht – als finanzielles Loch.
Die USA spielt mit ihrer Export-Politik Russland sogar ungewollt in die Karten. Gazprom-Chef Alexej Miller bezeichnete 2018 als ein „Rekordjahr“. Mit den Pipeline-Projekten nach China und Mitteleuropa könnte der russische Konzern die kommenden Jahre sogar noch besser auftrumpfen.
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Auch Deutschland kann sich über mangelnde Gasversorgung nicht beklagen. Zwischen den Stühlen der russischen und US-Amerikanischen Interessenspolitik fährt Deutschland ein doppeltes Spiel. Denn neben Nord-Stream 2 sind in Deutschland derzeit vier LNG-Terminals für die Flüssiggas-Tanker als Großprojekte von privaten Investoren geplant: In Brunsbüttel, Rostock, Stade, Wilhelmshaven.
Terminals sind Andockstellen für Transportschiffe, an die das geförderte Flüssiggas in großen Kühltankern geliefert und in europäische Pipelines gepumpt wird. Es sollen Anlaufstellen für US-Amerikanisches Fracking-Gas sein – die ersten überhaupt, die es in der Bundesrepublik gibt.
Bau der Terminals verzögern sich
Das Portal energate.de ermittelte jedoch, dass bis zum Start des ersten deutschen LNG-Terminals noch bis zu zwei Jahre ins Land gehen könnten. Bedenken von Umweltschützern und geographische Bauschwierigkeiten an allen Standorten machen den Betreibern zu schaffen. Außerdem gibt es Zweifel, ob der deutsche Markt überhaupt vier LNG-Terminals braucht. Nord-Stream 2 soll bereits Ende 2020 fertiggestellt und ans Netz angeschlossen werden – weit vor dem ersten deutschen LNG-Terminal.
Flüssiggas bezieht Deutschland stattdessen aus anderen europäischen Staaten, insbesondere aus den Niederlanden. 36 Terminals für LNG-Gas gibt es derzeit auf dem gesamten Kontinent. Deren Auslastung liegt jedoch nur bei 40 Prozent, wobei diese in den vergangenen Jahren etwas gestiegen ist. Rund 40 Prozent des gesamten Erdgasbedarfs der Bundesrepublik wird jedoch weiterhin über russische Pipelines geliefert.

Damit ist der Osten deutlicher Spitzenreiter auf dem deutschen Markt – und wird dies womöglich auch noch lange bleiben. Jedoch ist auch der westeuropäische Markt höchst umkämpft. Beispielsweise mischt Russland selbst in Sachen LNG-Gas als aufstrebender Newcomer mit. Die Firma Novatek stellte vergangenen Herbst Russlands größte LNG-Anlage auf einer Halbinsel in Nordsibirien fertig. Unter anderem finanzierten chinesische Großinvestoren das Projekt mit. Aber auch der französische Energieriese „Total“ sicherte sich Anteile von rund 20 Prozent. Selbst der immer stärker in die Kritik geratene Flüssiggas-Sektor in Westeuropa ist für die USA also mittlerweile kein Heimspiel mehr. Russland sicherte sich 2018 sogar eine enge Kooperation mit dem Rotterdamer Gate-Terminal, das ursprünglich als eine Hauptanlaufstelle galt, um US-Gasimporte zu empfangen. Im August 2019 startete Russland über das niederländische Terminal bereits mit ersten Gaslieferungen nach Kanada. Dazu kommt, dass die Betreiber des Rotterdamer Terminals dieselben sind, die in das geplante deutsche Terminal in Brunsbüttel involviert sind.
LNG-Gas als Brückenantrieb? Wohl eher nicht
Zu allen wirtschaftlichen Nachteilen droht dem LNG-Gas zudem, seinen Status als umweltfreundlichere Überbrückungsmethode im Vergleich zu herkömmlich geförderten fossilen Energien einzubüßen. Wohl bringt die Fracking-Förderung tatsächlich einige Vorteile mit sich. Das Gas kann zum Beispiel verflüssigt als Antriebsmittel für Schiffe und LKWs benutzt werden. Es wird bei Förderung aus dem Meeresboden in nahegelegene Häfen transportiert und auf Minus 167 Grad Celsius heruntergekühlt. Bei diesem Prozess kann das Flüssiggas gereinigt werden, sodass der Ausstoß von CO2 um rund 20 Prozent sinkt, wenn man das LNG als Antriebskraft für LKWs oder Schiffe benutzt. Ein noch größeres Plus ist die fast vollständige Reinigung von Feinstaub, Stickoxiden und Schwefel. Von einigen Energieforschern wird Flüssiggas deshalb als Brückenenergie bis hin zu erneuerbaren Antriebsmöglichkeiten angesehen. Jedoch fahren erst ungefähr 350 der 60.000 Schiffe mit LNG-Antrieb, die in den Weltmeeren unterwegs sind.
LNG-Gas „entpuppt sich als schädlicher Irrweg“
Doch für viele Umweltschützer ist LNG-Gas als Brückentechnologie mittlerweile eine Büchse der Pandora. „Das Flüssigerdgas entpuppt sich als schädlicher Irrweg“, meint etwa die Umweltorganisation Nabu. Denn bei der Förderung des Gases und dem Transport tritt massiv Methan aus. Eine Harvard-Studie aus 2016 stellte die Vermutung auf, dass seit dem Ausbau der Fracking-Förderung in den USA im Jahr 2002 die Methanemmissionen in den Staaten um 30 Prozent gestiegen seien. Der Internationale Rat für sauberen Transport (ICCT) ermittelte, dass ein LNG-Antrieb die Treibhausgasemmissionen um 70 bis 80 Prozent gegenüber einem Dieselantrieb steigern würde. Die Förderung und der Transport von LNG-Gas könnte für das Klima sogar einen höheren Schaden mit sich bringen, als herkömmliche Antriebs-und Heizmittel – wie etwa flüssiges Erdgas aus Russland. Die Europäische Union hofft etwa, das Unterfangen Nord-Stream-2 könnte dazu beitragen, die Emmissionsziele bis 2030 zu erreichen. Die EU geht davon aus, bei der Stromerzeugung durch Erdgas entstünden 50 Prozent weniger CO2 als etwa durch Kohleenergie. Alleine mit Nord-Stream-2 könnten 14 Prozent aller durch Stromerzeugung entstandenen CO2-Emmissionen in der EU eingespart werden, kalkuliert die Union. LNG-Gas dagegen ist zwar besser für die Luftqualität, für die Einhaltung der Klimaziele jedoch ungeeignet.
Sanktionen gegen Nord-Stream 2 verpuffen
Den wirtschaftlichen wie politischen US-amerikanischen Interessen auf dem europäischen Energiemarkt drohen also die Fälle davon zu schwimmen. Die US-Regierung reagiert mit Druck. „Wir haben noch nie Energie als politische Waffe eingesetzt“, wird US-Energielobbyist Barry Worthington von der taz zitiert und meint, Deutschland brauche daher Fracking-Gas aus den USA – nicht mit Nord-Stream 2 ein weiteres russisch-europäisches Großprojekt. Energie kann die USA tatsächlich nicht als politische Waffe einsetzten, denn dafür ist der europäische Markt zu sehr von Russland dominiert. Anfang 2020 reagierte der US-Senat mit 86 prozentiger Zustimmung jedoch mit anderen politischen Waffen auf den unliebsamen europäischen Kurs, am Projekt Nord-Stream 2 festzuhalten: Mit Wirtschaftssanktionen. US-Vermögen in Europa wurde eingefroren, Schiffe zum Transport der Pipeline-Rohre kamen zum Stillstand. Der befürchtete Anstieg der Energiepreise in Deutschland blieb aber aus. Mit ihren Sanktionen verzögerte die US-Regierung lediglich die Fertigstellung des Projekts. Ein Teilgrund dafür könnte auch die Coronakrise sein, die unter anderem mehrere Fracking-Projekte in den USA auf Eis legte und davor sorgte, dass finanzstarke Investoren absprangen. Durch die Verzögerung des Fracking-Ausbaus könnten die USA ihre Gas-Exporte im Falle eines Stopps für Nord-Stream 2 also zumindest nicht in erhofften Maße für Europa erhöhen, wie erhofft.
Wir fassen zusammen: Die USA versucht, den europäischen Gasmarkt für sich zu erobern. Ihr LNG-Fracking-Gas bezeichnet das US-Energieministerium als „Freiheitsgas“, um die EU von weiteren Geschäften mit Russland abzubringen. Die massiven Investitionen in Fracking-Gas gehen jedoch aller Vorraussicht nach hinten los, wie die durchwachsenen Geschäftsjahre 2018 und 2019 aufzeigten. Fracking-Gas als umweltschonender zu deklarieren, entpuppt sich ebenfalls nach und nach als gefährlicher Mythos. Die geographische Nähe zu Europa macht es Russland einfacher, preiswertes Gas mit umweltverträglicheren Fördermethoden anzubieten. Den chinesischen Markt kann Russland bereits für sich verbuchen. Die Pläne der USA, die russische Lebensader der Exportwirtschaft mit Fracking zum Einsturz zu bringen, stehen kurz davor, endgültig zu scheitern. Politischer Druck, um fehlende wirtschaftliche Attraktivität auf dem Energiemarkt auszugleichen, verfehlte ebenfalls ihre erhoffte Wirkung.
Wer profitiert von Nawalnys Vergiftung?
Im Hintergrund all dieser Entwicklungen sollten sich alle die Frage stellen: Wer profitiert eigentlich mehr von Nawalnys Vergiftung? Putin, der mit Nawalny einen Gegner loswerden würde, der laut einer Umfrage des Instituts WIZOM aus dem Jahr 2018 gerade einmal 1,5 Prozent aller Russen hinter sich vereint? Oder Gegner von Nord-Stream 2, die den Wettbewerb um Europas Energieversorgung zu verlieren drohen, die sich mit ihrem Fracking-Gas ein wirtschaftliches und geo-strategisches Todesurteil für die europäische Zusammenarbeit mit Russland erhofften und deren Druck auf Deutschland bislang wirkungslos blieb, um ein weiteres Großprojekt mit dem Klassenfeind zu stoppen? Urteilt selbst.
5 Kommentare zu „Die Kritiker von Nord-Stream 2: Vorgegaukelte Moral als Kulisse für wirtschaftliche und politische Interessen“