Der Virologe Hendrik Streeck plädiert in der „Welt am Sonntag“ für einen anderen Umgang mit dem Erreger SARS-Covid2. Dabei erntet er nicht nur sachliche Kritik. Es zeigt sich: Die Art, in der die Befürworter des Regierungskurses in Sachen Epidemie-Bekämpfung die Corona-Kritiker „analysieren“, lässt sich fast eins zu eins auf die festgefahrenen Kritiker von Streeck, Wolfgang Wodarg oder Sucharit Bhakdi anwenden. Eine Analyse.
Der Virologe Hendrik Streeck ist einer der wenigen Mediziner, die in etablierten Medien eine deutlich kritische Stimme hinsichtlich der Einschränkung wegen dem Erreger SARS Covid2 abbilden. Mit seiner Heinsberg-Studie Ende April erhob er wichtige Daten über das Virus, erntete jedoch auch viel Kritik. Ihm wird unter anderem eine zu große Nähe zum NRW-Ministerpräsidenten Armin Laschet vorgeworfen.
Obwohl sich der Wissenschaftler von der Universität Bonn recht vorsichtig ausdrückt, wird er von vielen als „Gegenpart“ zum Charite-Virologen Christian Drosten angesehen. Diese Sichtweise ist verkürzt und greift wie so oft nur den Dissens und nicht den Konsens zwischen zwei Personen auf. Streecks jüngste Äußerungen zum Umgang mit der Epidemie in der „Welt am Sonntag“ erzeugte deshalb eine rege und in weiten Teilen unsachliche Diskussion auf Twitter. Dieses Beispiel macht eines deutlich: Die gleiche Psychologie, die etablierte Medien bei den Corona-Kritikern ausmachen, lassen sich genauso auf der Seite der Maßnahmen-Befürworter auffinden.
Als Grundlage hierfür ziehen wir einen Spiegel-Artikel des Kolumnisten Sascha Lobo vom 26. August heran. Er titelt: „Wie die Corona-Protestanten ticken – Psychogramm der Empörten„. Dabei will Lobo nach Recherchen im Netz sechs zentrale Merkmale im Netz gefunden haben, die Corona-Protestanten in ihrer Ganzheit vereinen würden. Also ziehe ich mir Lobos Merkmale heran, um damit den neuesten Sturm der Maßnahmen-Befürworter auf die jüngsten Äußerungen von Hendrik Streeck zu analysieren. Ich nenne dies: Wie die Maßnahmen-Befürworter ticken – ein Psychogramm der Empörten. Oder einfach allgemeiner: Wie Menschen in festgefahrenen politischen „Lagern“ ticken.
Erstes Merkmal: Prinzip Angstporno
Sascha Lobo schreibt über die Protestanten gegen die Corona-Einschränkungen:
„Es handelt sich um ein Spiel mit der Möglichkeit – denn für diese Form der Angstunterhaltung ist der tatsächliche Wahrheitsgehalt kaum relevant. Ungefähr so, wie man sich auch bei einem Film real gruseln kann, obwohl man weiß, dass kein Maskenmörder hinter der Tür lauert, sondern ein Schauspieler.“
Im Falle Streeck bedeutet das: Der tatsächliche Wahrheitsgehalt von Streecks Aussagen ist nicht relevant. Ebensowenig die Einsicht, dass ein vielseitiger Diskurs notwendig und für alle Seiten von Erkenntnis geprägt sein kann. Etwa meint der Virologe: „Wir dürfen uns bei der Bewertung der Situation nicht allein auf die reinen Infektionszahlen beschränken.“ Zu einer komplexen Situation nur eine Kennzahl als Grundlage für politische Entscheidungen heranzuziehen, ist in der Tat problematisch und unprofessionell. Zudem sagt Streeck: Zwar steige die Zahl der positiv getesteten Menschen in Deutschland und Europa signifikant an. „Gleichzeitig sehen wir aber kaum einen Anstieg der Todeszahlen.“ Die Lage der Pandemie müsse unter diesen Umständen neu eingeschätzt werden. Das ist Streecks Haltung.
Im Netz löst der Wissenschaftler bei manchen Nutzern mit solchen Aussagen jedoch Lobos „Angstporno“ aus. Beispiel:
Streeck wird vorgeworfen, zwanghaft eine „Idee“ durchsetzen zu wollen. Diese Idee ist aus der Sicht von vielen die einer „Herdenimmunität“.
Beispiele:
#Streeck möchte weiterhin seine Idee durchsetzen- missachtet dabei die Patienten mit Langzeitschäden, #LongCovid und asymptomatische #Infizierte! Gefährlich und für mich untragbar! #mutigwieStreeck #Pandemie.
„Das Streek (sic) seine Reputation in der Wissenschaftscommunity mit seinen Aussagen untergräbt, scheint ihm egal zu sein…#Streeck Sorry für die vielen Tweets, aber ich bin so sauer das immernoch Herdenimmunität propagiert wird!“
Streeck hat nie derartige politische Forderungen geäußert. Er plädiert lediglich für eine längerfristige Strategie, die ein Leben im Einklang mit dem Virus unter Berücksichtigung aller Werte ermöglichen kann. „Das Virus wird nicht weggehen“, warnt er beispielsweise in der ARD-Sendung Maischberger – ein Schluss, zu dem er als Virologe durchaus kommen kann. In seinen jüngsten Aussagen erklärt Streeck lediglich, dass symptomlose Infizierte nicht zwangsläufig schlimm sein müssen und sie zumindest für eine gewisse Zeit immun sein würden. Er zählt die positiven Aspekte auf, die sich ergeben, wenn viele Patienten einen symptomlosen Verlauf haben. Das muss aber nicht heißen, dass Streeck eine Strategie der Herdenimmunität durchsetzen will. Und selbst wenn: Wo wäre das Problem? Darf ein renommierter Virologe denn keinen Aspekt in einen Diskurs einbringen, der etwas vom momentanen Zeitgeist abweicht?
Der Angstporno ist also der einer Herdenimmunität, die für viele tausende Menschen tödlich endet und für viele chronische Langzeitschäden verursacht. Und Streeck ist der Böse, der dies mit allen Mitteln durchsetzen will. Der tatsächliche Wahrheitsgehalt, ob diese Aussage überhaupt getroffen wurde, wird ausgeblendet.
Zweites Prinzip: Magie und Markt
Lobo schreibt:
„Unsichtbare Kräfte verursachen tödliche Krankheiten, Kontrollverlust durch Zombifizierung, der Boden tut sich auf und verschluckt jemanden, die Welt geht unter. Zum Glück gibt es Gegenmittel, überraschend oft werden den abstrusen Angstszenarien konkrete, kaufbare Produkte entgegengestellt. Die Angst überwinden durch Konsum, zum Beispiel von lange haltbaren Notvorräten.“
Hier gilt: Der Kontrollverlust durch die Geschehnisse ab März dieses Jahres betrifft uns alle gleich – ob Maßnahmen-Gegner oder Befürworter. Das ergibt Kontrollverluste auf allen Seiten: Gegner, Befürworter, Verschwörungstheoretiker, Gesundheitsapostel, Extremisten und auch Politiker und Wissenschaftler. Lobos ausgemachtes Phänomen lässt sich also auf nahezu alle Gruppen in Teilen übertragen.
In der Gruppe der Maßnahmen-Befürworter sieht das so aus: Lobos „Angstszenarien“ durch das Virus, insbesondere durch Bilder von Leichen und überfüllten Krankenhäusern ausgelöst, werden simpel klingende Gegenmittel wie Abstand halten, Maske tragen, Hände waschen oder Schul-und Geschäftsschließungen entgegengesetzt. Eine rationale Kosten-Nutzen-Abwägung oder Zweifel an der Sinnhaftigkeit dieser Maßnahmen werden entweder ausgeblendet oder bekämpft, da sie ja als alternativlos gelten. Streeck erkennt dies und versucht die Komplexität der Thematik anzumahnen: „Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass niemand den richtigen Weg im Umgang mit der Pandemie kennt.“ Aus Sicht vieler Maßnahmen-Befürworter reichen solche Anmerkungen einer fehlenden absoluten Wahrheit aber bereits aus, um als Gefahr für das Gemeinwohl zu gelten. Und Lobos „lange haltbare Notvorräte“ kennen wir ja auch bestens – Stichwort Hamsterkäufe.
Drittes Merkmal: Wunsch nach Bedeutung
Lobo schreibt:
„Einerseits möchte man selbst eine gewisse Bedeutung haben, andererseits soll das Weltgeschehen gefälligst eine decodierbare Bedeutung mitbringen. Die viel zitierten Verschwörungstheorien sind in der Tat eine wichtige Basis für Wut und Angst – aber man kann sie als Symptom sehen. Denn Verschwörungserzählungen erfüllen beide Anforderungen: die eigene, persönliche Bedeutung, weil man zu den „Aufgewachten“ gehört und nicht zu den „Schlafschafen“. Und die Weltbedeutung, denn endlich lässt sich die verwirrende Realität in einfache, eindeutige, eingängige Erklärschablonen einteilen.“
Lobo wählt hier ein Merkmal, das zutiefst menschlich ist und auf fast jeden Einzelfall anwendbar ist. Jeder Mensch hegt den Wunsch nach Bedeutung – die Frage nach dem „Sinn des Lebens“ ist wohl so alt, wie der Mensch selbst. Daher ist es ein leichtes, den Wunsch nach Bedeutung auch bei den Maßnahmen-Befürwortern ausfindig zu machen.
Nicht nur „Verschwörungserzählungen“ erfüllen die Prämisse, Selbstbedeutung und Bedeutung über das Weltgeschehen zu erzeugen. Um das zu sehen, genügt es, mir zwei Sätze von Lobo heranzuziehen und nur einzelne Wörter auszutauschen: Denn das „zeitgeistliche Narrativ“ erfüllt beide Anforderungen: die eigene, persönliche Bedeutung, weil man zu den „Vernünftigen“ gehört und nicht zu den „Covidioten“. Und die Weltbedeutung, denn endlich lässt sich die verwirrende Realität in einfache, eindeutige, eingängige Erklärschablonen einteilen.
Beispiele in der Diskussion um Hendrik Streeck:
„#Streeck ist für die Virologen das, was die BILD für die Printmedien, Betamax für die Videorekorder und Yahoo! für die Suchmaschinen ist.“
„Entgegen allem, was in der Welt passiert postet, Ihr weiterhin – unkommentiert und unbewertet – den Quatsch von #Streeck der hier Ratschläge erteilt, die gar nicht aus seinem Fachgebiet stammen.“
Viertes Merkmal: Gemeinschaftsgefühl und Hilflosigkeit
Zu diesem Punkt erläutert Lobo:
„Es handelt sich um die Umwidmung der eigenen Hilflosigkeit: Gegen eine Pandemie kann man im Prinzip nur passiv still halten; gegen eine Verfolgung durch die Regierung oder eine Verschwörung kann man gemeinschaftlich aktiv kämpfen. So wird kollektiv die eigene Hilflosigkeit und Wut in ein handlungsorientiertes Gemeinschaftsgefühl verwandelt.“
Spricht sich Sascha Lobo hier für eine Aufhebung aller Corona-Maßnahmen aus? Wenn man bei einer Pandemie „im Prinzip nur passiv still halten“ kann, warum versuchen stark ermächtigte Exekutiven dann seit März mit allerhand Verordnungen die Ausbreitung eben jener Pandemie aktiv einzudämmen? Herr Lobo: Mit einem solchen Satz werden Sie sich auf Querdenker-Demos nicht großartig vom Großteil der Protestanten abheben. Aber zurück zu den Maßnahmen-Befürwortern: Lobo erklärt, wie sich eine „kollektive Hilflosigkeit in Wut und ein handlungsorientiertes Gemeinschaftsgefühl verwandelt.“ Im Falle Streeck sprechen sich einzelne Regierungs-Befürworter dafür aus, dem Virologen keine Plattform in etablierten Medien mehr zu geben. Ein aktives, gemeinschaftliches und handlungsorientiertes Handeln, um den gefährlichen und vermeintlich interessensgesteuerten Störenfried loszuwerden.
Beispiele:
„#Streeck ist für mich die Bild in der Pandemie. Absolut unbedeutend, auf Fame aus, nichtssagenden. Kann weg“
„Bin auch für einen Strategiewechsel: man sollte #streeck keine Plattform mehr geben, um seine zum Teil geringschätzigen Thesen gegenüber Covid-19- und Risikopatienten verbreiten zu können.“
Elitenverachtung und Untergangssehnsucht
Lobo:
„Besonders anknüpfungsfähig sind die Wut auf „Babyfresser“ und der Hass auf die „Eliten“. Die Elitenverachtung erscheint als zentraler Antrieb der gesamten Bewegung und lässt sich in beliebige Richtungen drehen: etwa als Judenhass, als Antiamerikanismus, als Medienverachtung, als vulgäre Kapitalismuskritik, als Demokratieablehnung, als Phantasma einer weltbeherrschenden Pharma-Mafia oder als Putin-Verehrung, die als schlecht getarnte Ablehnung des westlichen Liberalismus funktioniert. Weil die „Eliten“ stets nach der Unterwerfung oder Auslöschung der vielen streben, ist mit der Elitenverachtung eng die Untergangssehnsucht verbunden.“
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Die „Untergangssehnsucht“ ist bei einigen Befürwortern starker Maßnahmen ebenso zu beobachten. So wird der Untergang ganzer Wirtschaftszweige als hinnehmbar bezeichnet, öffentliche Intellektuelle wie Richard David Precht fordern die selbe Stringenz in den Maßnahmen auch hinsichtlich anderer globaler Probleme wie etwa dem Klimawandel. Der neoliberale, freizügige und egoistische Kapitalismus wird dem vermeintlichen Gemeinwohl geopfert. Für die gute Sache ist ein starker und mächtiger Staat zur Durchsetzung der „guten Anliegen“ ein probates Mittel. Was diese „guten Anliegen“ überhaupt sind, muss aus Sicht derjenigen auch gar nicht debattiert werden. Wer solche Fragen stellt, gehört doch sowieso zur Elite der „weißen alten Männer“, die ihre angeblichen „Privilegien“ nicht zum Wohle aller abtreten wollen. Es ist Demokratieablehnung, nicht über solche Fragen diskutieren zu wollen. Ebenso werden die Gefahren eines mächtigen Staates ignoriert. Die Wirtschaft ist etwas egoistisches und schäbiges – und muss zur Abwehr der großen Gefahr zerstört werden. Das alles wirkt wie ein vermeintlich kleines Übel. Stichwort alternativlos.
Merkmal sechs: Erlösungserzählung
So erläutert Lobo seinen letzten Punkt über die Corona-Demonstranten:
Die Erlösungserzählung findet sich aber auch im Großen und kann dann in gefährliche, meist nationalistisch und autoritär gefärbte Stimmungen umschlagen. Corona erscheint vielen Demo-Interessierten als eine Wende der Geschichte, als Moment des großen Wandels. Weil religiöse Erlösungsphantasien sehr verbreitet sind, kann man „Corona-Protestanten“ sehr wörtlich nehmen. Weltlicher orientierte Gemüter sprechen von „Gesara“, der Kurzform von „Global Economic Security and Reform Act“, was einer amerikanischen Gesetzgebung nachempfunden ist und mit dem Gefühl „Phoenix aus der Asche“ übersetzt werden kann.
Lieber Herr Lobo: Was wir seit März in Deutschland beobachten, ist in weiten Teilen genau dieses Szenario, das Sie selbst hier beschreiben: Eine Nationalistische, autoritär gefärbte Stimmung. Diese Entwicklungen wurden jedoch im Namen des Gesundheitsschutzes durchgeführt und nicht von den Maßnahmen-Gegnern eingeläutet. Strenge Law-and-Order-Verordnungspolitik, ein starker und ermächtigter Staat mit lascherer Gewaltenteilung und schnellen Lösungen, Demonstrationsverbote bis Anfang April, Einschränkungen der Grundrechte wie die Berufsfreiheit auf unbestimmte Zeit oder geschlossene Grenzen mit strengen Grenzkontrollen. Es ist im Großen und ganzen eine rechte, autoritäte Politik, die im Namen den Infektionsschutzes durchgeführt wurde. Wenn Lobo den Maßnahmen-Gegnern also nationalistische Stimmungen vorwirft, was wirft er dann Befürwortern dieser rechtsautoritären Verordnungspolitik vor? Übrigens brüstete sich AFD-Chef Jörg Meuthen im ARD-Sommerinterview damit, als erste Partei Grenzschließungen und einen bundesweiten Lockdown gefordert zu haben. Herr Lobo: Bitte distanzieren Sie sich umgehend von dieser rechtsnationalen Partei!