Zwischen „Sturm auf Berlin“ und #Wasserwerfer – Ein Appell an alle Spalter

Das versuchte Verbot der großen Corona-Massendemonstration in Berlin hat eine hitzige Debatte ausgelöst. Das Gericht kippte das Verbot und die Kundgebung fand legal statt. Das Wirrwarr bietet auch Chancen: Etablierte Medien führen endlich Debatten über die Abwägung zwischen Grundrechten und Gesundheitsschutz. Die Diskussion ist überfällig und muss längst erweitert werden. Zeitgleich driften die Lager bedrohlich auseinander. Zeit für einen Appell.

Es geschehen ja noch Wunder. Ausgerechnet die Bildzeitung hat am Mittwoch vorgemacht, wie Debatten in Zeiten der Corona-Einschänkungen auch laufen können. In einer Diskussionsrunde sprechen Corona-Chefmahner Karl Lauterbach, Focus-Kolumnist Jan Fleischhauer und der Berliner FDP-Politiker Sebastian Czaja darüber, ob das Verbot der Demonstration gegen die Corona-Einschränkungen am 29.08. mit der vom Berliner Senat angegebenen Begründung legitim ist oder nicht. „Berlin verbietet Corona-Demo – und löst Riesen-Debatte um Grundrechte aus | Der große Streit-Talk“, hieß der Titel des YouTube-Livestreams. Das Berliner Verwaltungsgericht hat dazu am Freitag eine klare Antwort gegeben: Nein, die Begründung ist nicht legitim. Die Veranstaltung steigt.

Eine Riesen-Debatte um die Grundrechte…

Zeit um nachzudenken. Denn ausgerechnet die Bewegung „Querdenken“ fordert als einer der Hauptplayer genau solche Grundsatz-Debatten im Hinblick der Grundrechtseinschränkungen seit dem Frühjahr – und ruft folgerichtig zu Demonstrationen auf. Erst jetzt, nach dem Verbotsversuch des Berliner Senats, ist diese Diskussion von der taz, der nzz und anderen großen Medien so richtig angerissen worden. Es ist die gleiche Bewegung, die zur Berliner Massendemonstration am 29. August auf der Straße des 17. Juni aufruft.

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Es scheint also, dass große Medien nun endlich eine offenere Debatte hinsichtlich der Grundrechtseinschränkungen in Namen des Infektionsschutzes führen könnten. Aber nicht zu viel der Euphorie: Denn das geltende Framing der Demonstrationsteilnehmer als rechtsradikal, verschwörungsideologisch und Corona-Leugner bleibt weiter unverändert. Ebenso die strikte Verfahrensweise, sich einer ergebnisoffenen Auseinandersetzung mit den Anliegen der Protestler zu entziehen. Differenzierung findet fast nicht statt. Dabei halten radikal ideologisierte Protestler bei weitem nicht als repräsentatives Abbild von Skeptiker der Corona-Einschränkungen her, worauf jüngst auch der Bundesverfassungsschutz eindeutig hinwies. Eine „Riesen-Debatte um Grundrechte“, liebe Bildzeitung, gibt es bereits seit Anfang der Corona-Einschränkungen. Diese Debatte haben die etablierten Medien nur bis heute jedoch wenig bis gar nicht geführt. Kritiker blieben daher nur noch die Straße und das Internet um ihre Sorgen und Einschätzungen um elementare Grundrechte während der Coronakrise zu äußern. Die Proteste überraschen daher überhaupt nicht.

Es zählt das Argument, nicht das Etikett

Aufgrund der permanenten Extremismus-Vorwürfe wird sich mit den Anliegen von tausenden friedlichen Demonstranten immer noch nicht ernsthaft befasst. Warum? Weil in ihrer Nähe Nazis marschiert haben könnten. Als Strafe dieser „Berührungsschuld“ wird konkrete Kritik an den Maßnahmen nicht nur ignoriert, sondern pauschal als illegitim diffarmiert. Das kann nicht unser Anspruch einer Debattenkultur sein. Denn eigentlich zählt das Argument, nicht das Etikett, das einem von außen aufgeklebt wird.

Doch warum fokussieren wir uns überhaupt so sehr auf Unterschiede, dass wir unsere möglichen Gemeinsamkeiten gar nicht mehr entdecken, geschweige denn einen gemeinsamen Nenner für möglich halten? Warum können sich Menschen nicht in Interessensgemeinschaften für spezifische politische Anliegen zusammentun und gegebenenfalls eine gemeinsame Stimme abbilden, auch wenn man sich in anderen Anschauungen möglicherweise entgegensteht? Haben wir verlernt, unvoreingenommen zu diskutieren?

Zumindest sollte jedem klar sein: Egal welcher Mensch einem gegenübersteht, es lassen sich immer Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede feststellen. Wer glaub, sein herbeikonstruiertes politisches „Lager“ nie verlassen zu müssen, begibt sich in einen gefährlichen Gruppenzwang. Und damit machen sich Menschen abhängig, kontrollierbar und schwach. Alle sollten sich fragen: Geht es uns darum, Dinge zu bewegen und sich zu positionieren? Oder geht es uns darum, Freund und Feind zu zementieren und einen Kleinkrieg zwischen vermeintlich unvereinbaren Lagern zu befeuern? In der Auswahl dieser Handlungsmaximen entscheidet sich, wer Demokratie ernst nimmt und wer nicht.

Wo sind die rechtsradikalen Botschaften

Die wenigen Radikalen im Umfeld der Corona-Proteste haben die überrepräsentative Bühne in den Medien bei weitem nicht verdient. Und Gegner der Corona-Proteste nehmen dieses falsche Bild gerne als Grund dafür, starken Unmut über die derzeitige Gesundheitspolitik pauschal als illegitim und versponnen abzustempeln. Ihnen bleibt nur der Rat, sich Livestreams, Reden, Videos und Statements von den größten Demonstrationen selbst anzuschauen und dann zu urteilen. Dort zeigt sich, dass Inhalte rund um die Corona-Maßnahmen und die Darstellung der politischen Landschaft in großen Medien ganz klar das Kernthema der Botschaften abbilden. Natürlich mischen sich vereinzelt Rechtsradikale unter die Demonstranten. Dies hat jedoch nicht zur Folge, dass Rechtsradikale Thesen nun automatisch einen bedeutenden Teil dieser Protestbewegung ausmachen. Jedoch reichen 200 Reichsflaggenträger auf der Bühne des Reichstages aus, um mehrere Tausend friedliche Demonstranten auf die gleiche Stufe mit Reichsbürgern oder Rechtsradikalen zu stellen.

Querdenken-Gründer Michael Ballweg distanzierte sich zudem mehrfach ausdrücklich von radikalem Gedankengut – unter Applaus der meisten Demo-Teilnehmer.

Auch die Polizeistatistik von der Demonstration in Berlin am 1.08. belegt, dass keinerlei Gewalt der Demonstranten auf der Querdenken-Kundgebung ausgingen. Am gesamten Tag wurden 44 Polizisten im Rahmen von Kundgebungen verletzt – jedoch nicht von Gegnern der Corona-Maßnahmen, sondern auf anderen Kundgebungen in Neukölln und am Prenzlauer Berg. Dies schlüsselt die Berliner Polizei in einer Pressemitteilung auf.

Wir verstricken uns in Blasen, Gruppen und gegenseitiger pauschaler An-und Ablehnung, anstatt uns möglichst unvoreingenommen zuzuhören. Dadurch geht nicht nur viel politisches Potential verloren: Die Profiteure des Status quo lachen sich ins Fäustchen, wenn Bürger nicht mehr in Interessen und Argumenten denken, sondern sich aufgrund von Etiketten, Feindbildern und Vorurteilen auseinander treiben lassen und damit immer schwächer und unmündiger werden.

Wer nun weiter eskaliert, spielt außerdem den Attila Hildmanns und Xavier Naidoos, die auf Telegram zum „Sturm auf Berlin“ aufrufen, zusätzliche Anhänger zu. Und noch einmal: mit der großen Querdenken-Bewegung haben diese Aktivisten nichts zu tun. Im Gegenteil: Hildmann wirft Organisator Michael Ballweg sogar vor, vom „System“ bezahlt zu werden.

Berliner Senat befeuert Radikalisierungen

Der Berliner Senat hat mit seinem Vorgehen den ein oder anderen Protestanten weiter radikalisiert. Unter anderem dürfte auch die abenteuerliche Begründung des Berliner Innensenators Andreas Geisel für den Versuch des Demonstrationsverbots ihren Anteil daran haben. Brandstifter für weitere Radikalisierungen ist nicht die Querdenken-Bewegung. Es sind solch unsinnige Versuche, den politischen Gegner trotzig und rechtswidrig zu bekämpfen.

Radikalisierungen finden gleichzeitig auch auf der Seite der Protest-Gegner statt. Am Mittwoch kursierte kurzzeitig das Stichwort „Wasserwerfer“ in den Twitter-Trends. Kurzum: Einige Nutzer fänden es gerechtfertigt, Teilnehmer an einer zu diesem Zeitpunkt noch verbotenen Demonstration mit Knüppeln, Wasserwerfern und Tränengas zu bearbeiten – ganz gleich, wie friedlich sich die Protestler verhalten würden. Allein ihr Erscheinen würde ein solches Vorgehen aus der Sicht von einigen Protest-Gegnern bereits rechtfertigen. Solche Posts sind nichts anderes, als eine Aufforderung zu unangemessener Polizeigewalt. Und radikal.

Hier einige Beispiele, ehe Twitter mehrere dieser Posts löschte.

Solche Beispiele zeigen: Die hasserfüllte Eskalationsspirale muss enden. Begriffe wie „Covidioten“ befeuern bereits brennende Konflikte und sollten Tabu sein. Insbesondere, wenn sie aus der Feder einer SPD-Vorsitzenden kommen. Es sind bestimmt auch ihre SPD-Wähler, die Saskia Esken pauschal als Idioten beschimpfte, weil sie eine andere Einschätzung als die Bundesregierung zum Umgang mit einem Erreger haben und deshalb am 1. August von ihrem Demonstrationsrecht Gebrauch machten.

Gleichzeitig sind Befürworter der Corona-Einschränkungen nicht automatisch Schlafschafe, DDR-Befürworter, Lemminge oder Paranoide.

Lagerdenken ist spätestens in Zeiten der Corona-Thematik sowieso von gestern. Bereits im Aufkeimen der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen zeigten die Generaldebatten auf, warum die aufkommende Unzufriedenheit mit der Politik mit dem üblichen Etiketten-Denken nicht mehr erklärt und erstickt werden kann. Dass diese Schemata hinsichtlich der Protestbewegung immer noch als Bekämpfungsstrategie bedient werden, ist besorgniserregend.

Nur Korrupte brauchen keine Mehrheiten

Doch wer weiß: Vielleicht entdecken wir ja doch noch das Gespräch mit Andersdenkenden. Vielleicht entdecken wir dabei nicht nur gegensätzliche und konfliktbefeuernde Ansichten, sondern – oh weh – vielleicht sogar Übereinstimmungen mit dem Klassenfeind. Sich immer nur in Wiedersprüche und Feindbilder zu verstricken, sich immer weiter zu bekämpfen, sich gegenseitig nicht aushalten zu können, sich nicht zuzuhören, sich auszulachen, mit Kampfbegriffen um sich werfen…das ist unmenschlich und erzeugt Verlierer auf fast allen Seiten. Wer sich dem respektvollen Dialog verweigert, wird am Ende nur in seiner Blase gehört. Niemand ist auf diese Art und Weise in der Lage, demokratische Mehrheiten für seine Anliegen zu erringen. Wer nicht für legitime Interessen bereit ist, auch mit vermeintlichen Feinden seiner Gesinnung zusammenzuarbeiten, für Mehrheiten zu kämpfen und seinen kindlichen „Stolz“ zu überwinden, der kann nur noch über Kontakte, Geld, Korruption und Manipulation politisch etwas bewegen. Die Verlierer sind dann alle, die über solche Mittel nicht verfügen.

Veröffentlicht von chsscha

Freidenkender Schreiberling, der sich um Zukunftsfragen Gedanken macht und Fragen stellt, die nicht in Dauerbeschallung durch die Kanäle der Republik gepeitscht werden. Ich bin Mitgründer und Administrator des Gemeinschaftsblogs www.generaldebatten.com. Auch findet ihr uns auf unserem Youtube-Channel "knallhart durchgeleuchtet". Viel Spaß beim Durchstöbern unserer und meiner Inhalte!

2 Kommentare zu „Zwischen „Sturm auf Berlin“ und #Wasserwerfer – Ein Appell an alle Spalter

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